Unter dem GSG-Hof Gustav-Meyer-Allee 25/Voltastraße 5 in Wedding verbirgt sich ein Monument historischen Ausmaßes. Der AEG-Tunnel. Er gilt als der erste U-Bahntunnel Deutschlands. Nachdem er Jahre lang unter Wasser stand, kann er – dank des Vereins Berliner Unterwelten und der GSG – seit 2017 wieder besichtigt werden.
Mieterportrait: Berliner Unterwelten
Man würde sich nicht wundern, wenn einem in diesem Tunnel plötzlich Harry Lime aus dem Filmklassiker „Der dritte Mann“ entgegengerannt käme. Das müsste er auch, denn dieser Berliner Tunnel endet nun mal in einer Sackgasse.
Ob in Wien oder in Berlin: Unterwelten üben eine sogstarke Faszination aus, nicht nur auf der Leinwand. Sie haben etwas Geheimnisvolles, aber auch Abenteuerliches an sich. Und irgendwie könnte hier auch Gefahr lauern. Auf jeden Fall entführen sie uns in eine andere Welt. Zum Teil in eine vergessene.
Der Verein Berliner Unterwelten e. V., 1997 von elf begeisterten Unterwelt-Enthusiasten gegründet, versteht sich als „Lobby der gebauten Berliner Unterwelt“. Erklärtes Ziel: den Berliner Untergrund zu erforschen und zu dokumentieren. Mehr noch: Die engagierten Vereinsmitglieder, ein Zusammenschluss von Enthusiasten mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen und Historikern, haben es sich zur beseelten Aufgabe gemacht, historisch bedeutsame unterirdische Orte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und künftigen Generationen zu erhalten. Was für ein wunderbares Anliegen. 2018 erhielt der Vereinsvorsitzende Dietmar Arnold stellvertretend für den Verein den Verdienstorden des Landes Berlin.
Im letzten Jahr feierte der Verein sein 25jähriges Bestehen. Seine Tatorte: Bunker, Verkehrsanlagen und Schauplätze der Industriekultur Berlins, die beispielhaft für die Entwicklung der Stadt der letzten 150 Jahre stehen.
Und hier war mächtig was los. Ende des 19. Jahrhunderts schreibt Berlin Technikgeschichte. Die Industrialisierung verändert und formt die Stadt. Die Schauplätze der Industriekultur Berlin zeigen diesen Wandel sowie die gesamte Berliner Industriegeschichte aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Zu den Schauplätzen gehören Museen, historische Orte und Unternehmen, die seit über 100 Jahren erfolgreich in Berlin produzieren. Einige Standorte sind täglich geöffnet, andere nur mit einer Führung oder nach vorheriger Anmeldung zugänglich.
Einer von ihnen ist der AEG-Tunnel in Wedding. Um mal gleich Klartext zu reden: Hierbei handelt es sich um Deutschlands ersten U-Bahntunnel. Zzzzzzuuuuurücktreten, bitte. Okay, jetzt mal von ganz vorne. Also: Die AEG, die „Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft“, war einst Symbol der Elektrorevolution in Deutschland. Das Unternehmen war Visionär, Inkubator, Transformator, Game Changer.
1894 kaufte die AEG den nördlichen Teil des einstigen Schlachthofgeländes am Humboldthain, schräg gegenüber der AEG-Apparatefabrik Ackerstraße. Ab 1895 errichtete sie hier eine Großmaschinenfabrik, die unter namhaften Architekten wie Franz Schwechten und Peter Behrens zu einer regelrechten Fabrikstadt heranwuchs.
Mit einem Gleisanschluss an die Ringbahn war der Baublock zwischen Brunnenstraße 111, Gustav-Meyer-Allee 25, Voltastraße 5-6 und Hussitenstraße verkehrsgünstig gelegen. Die ersten Fabrikgebäude – Großmaschinenfabrik und Hochspannungsfabrik – wurden auf der Blockinnenfläche errichtet, während der Blockrand noch mit Mietshäusern bebaut war. Der Geländestreifen südlich der Gustav-Meyer-Allee, der zum Humboldthain gehörte, wurde erst 1928 von der AEG erworben. Die Mietshäuser an Voltastraße und Hussitenstraße mussten zwischen 1906 und 1913 riesigen Stockwerksfabriken weichen, die mit einem geschlossenen Blockrand das Fabrikgelände umschließen. Die ältesten Gebäude zeigen noch historisierend gestaltete Fassaden mit der Handschrift Franz Schwechtens, bis Peter Behrens, der 1907 zum künstlerischen Beirat der AEG berufen wurde, einen grundlegenden Wandel in der Industriearchitektur einleitete. Behrens schuf eine monumentale Bauweise, die ohne jedes Ornament auskommt und mit strengen, klar geordneten Formen den funktionalen Anforderungen der industriellen Produktion folgte.
Seine Bauten sind wegweisend für die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ungeachtet der stilistischen Unterschiede bieten die Fabriken an Acker- und Brunnenstraße ein einheitliches Bild. Mit einer Backsteinverkleidung heben sich die Industriebauten vom umliegenden Wohngebiet ab. Neben dunkelrotem Backstein wurden bläulich schimmernde Eisenklinker verwendet.
Das Technische Hilfswerk hat für uns den Tunnel ausgepumpt und unsere eigenen Leute haben das historische Gleisbett in mühseliger Arbeit wieder freigepickt.
Um ihre Fabrikstandorte in der Ackerstraße und am Humboldthain zu verbinden, baute die AEG 1895-96 einen 295 Meter langen Tunnel, der bis zu 6,50 Meter unter der Oberfläche liegt. Elektrisch angetriebene Tunnelwagen fuhren seit dem 31. Mai 1897 durch eine 2,60 Meter breite und 3,15 Meter hohe eiförmige Röhre und transportierten Arbeiter und schweres Material zwischen den beiden Standorten hin und her. Die Zugführer trugen sogar eine eigene Uniform. Der AEG-Werkstunnel gilt heute als erster U-Bahntunnel Deutschlands, wobei die U-Bahn für die Berliner Bevölkerung ab 1902 am Potsdamer Platz in den Untergrund abtauchte.
Keine Frage: Neue Verkehrsmittel waren zu dieser Zeit gefragt. Der Konkurrent Siemens schlug eine „Unterpflasterbahn“ vor, die AEG favorisierte nach Londoner Vorbild eine unterirdische Röhrenbahn. Dennoch erhält der Konkurrent Siemens den Zuschlag – mit einem preiswerteren Konzept einer Hochbahn. „Die Stadt war streng genommen gegen den U-Bahnbau. Für Straßenbahn- und Pferdebusbetreiber stand einiges auf dem Spiel. Und der preußische Stadtplaner James Friedrich Ludolf Hobrecht hatte Angst um sein Abwasserkanalsystem“, erklärt Kay Heyne, Teamleiter beim Verein Berliner Unterwelten.
Ab 1902 rollen in Berlin die ersten Siemens-Züge. Die AEG nutzte ihren Tunnel aber weiterhin betriebsintern und zu Testzwecken. Um 1910 wurde die östliche Tunnelrampe abgebrochen und der Tunnel in den Keller eines Neubaus verlängert. Im Ersten Weltkrieg diente der Tunnel der Munitionsproduktion, im Zweiten Weltkrieg als Werkluftschutzanlage für die Betriebsangehörigen.
Anfang der 1980er-Jahre werden die AEG-Fabriken am Humboldthain nach und nach dicht gemacht. 1984 ist endgültig Schluss: AEG schließt seinen historischen Standort für immer. Auf der östlichen Hälfte des Areals ließ die Firma Nixdorf fast die gesamte historische Bausubstanz beseitigen, um seine Produktion in einem modernen Glaspalast anzusiedeln. In den verbliebenen und heute denkmalgeschützten Fabrikgebäuden sind ein Gründerzentrum sowie ein Technologiepark untergebracht.
Das unterirdische Bauwerk selbst war lange Zeit nicht mehr zugänglich, ihm stand das Wasser bis zum Hals. Doch seit dem Frühjahr 2016 hat der Verein mit Unterstützung des neuen Eigentümers, der GSG Berlin, das Bauwerk instandgesetzt und das historische Gleis wieder freigelegt.
Eine Meisterleistung. „Das Technische Hilfswerk hat für uns den Tunnel ausgepumpt und unsere eigenen Leute haben das historische Gleisbett in mühseliger Arbeit wieder freigepickt“, sagt Kay Heyne nicht ganz ohne Stolz. Seit April 2017 steigen Besucherinnen und Besucher bei geführten Touren wieder hinab in den „ersten U-Bahntunnel Deutschlands“.
„Unsere Besucher erhalten zunächst in einem kleinen Lichtbildvortrag einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Geländes und des Versuchstunnels, bevor wir den Tunnel selbst betreten und durchlaufen“, sagt Kay Heyne. „Dem einen oder andere wird der Tunnel vielleicht bekannt vorkommen. Hier wurden die Traumszenen für die Kultserie „Babylon Berlin“ gedreht. Wir kriegen regelmäßig Anfragen für Filmdrehs.“ Den Großteil kommerzieller Projekte lehnt der Verein ab. Nur bei historischen und themenverwandten Produktionen werde gelegentlich eine Genehmigung erteilt.
„Nach dem Tunnelgang verschaffen wir uns dann noch an der Oberfläche einen Überblick über das gesamte Areal“, so Kay Heyne. Die Tour durch Berlins ersten U-Bahntunnel dauert etwa 90 Minuten. Ein Erlebnis, das nachdenklich macht. Darüber, was unsere Vorfahren im Schweiße ihres Angesichts geschaffen haben. Ein Vermächtnis, was einen demütig macht. Und was wir wertschätzen sollten. „Es ist schade, dass wir immer nur darüber nachdenken, wo wir in Zukunft hingehen wollen. Dabei sollten wir nicht vergessen, wo wir herkommen“, sagt Kay Heyne.
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